Ich hänge am Seil in einer tiefen Gletscherspalte, die kalte Luft füllt
meine Lungen und mein Blick schweift über die umliegenden Feinheiten des
Eises. Tief unter mir fliesst ein Bach, der sich seinen Weg durch das Eis
schlängelt und ich frage mich, welchen Weg dieses Wasser noch vor sich
hat.
Wir besuchen zwei Wochen später den gleichen Ort nochmals. Die
Gletscherspalte, in die wir uns abgeseilt hatten, ist verschwunden. Der
kleine Bach wurde zu einem Fluss, welcher gemeinsam mit unzähligen
weiteren Bächen in den charakterlosen Stausee weiter unten im Tal fliesst.
Wann wird der Gletscher vor mir nur noch aus grauen Steinen und Schutt
bestehen und der Stausee unter mir leer sein, weil kein Schmelzwasser
nachkommt?
Meine Tätigkeit als Bergfotograf hat mich in den letzten Jahren zu den
spektakulärsten Gletscherlandschaften geführt. Die Orte, die ich lieben
gelernt habe, lösen sich vor meinen Augen auf. Immer wieder erlebe ich,
wie grosse Eisblöcke aus der Gletschermasse ausbrechen und in die Tiefe
stürzen. Die Erde wird wärmer.
Es gibt jemanden der sich zur Herausforderung gemacht hat, die Gletscher
vor dem Abschmelzen zu stoppen. Der Engadiner Glaziologe Felix Keller
entwickelt ein Verfahren, welches den Morteratschgletscher auf einer
Fläche von einem Quadratkilometer künstlich beschneien soll. Die
Schneeschicht kann den Gletscher vor dem Schmelzen schützen. Ich habe
Felix gefragt, wie er dieses Vorhaben umsetzen will und wie es zu diesem
Projekt gekommen ist.
Die Idee, welche er beim Fischen im Jahr 2015 erblickte, wurde von einer
verrückten Vision zu einem realen Projekt, für welches jetzt die nötige
Technologie entwickelt wird. Dabei wird das Schmelzwasser, welches im
Sommer entsteht, gespeichert, um es im Winter für die Beschneiung zu
nutzen. Das Schneiverfahren funktioniert ohne Einsatz von Strom durch
mehrere Schneiseile, die quer über den Gletscher gespannt sind. Es braucht
etwa eine 4-8 Meter dicke Schneeschicht, damit das Eis vollständig
geschützt ist. Wenn dies auf einem Quadratkilometer geschehen würde, zeige
sich nach den heutigen Temperaturen, dass der Gletscher sogar wieder ein
wenig verlängern würde.
Ich laufe Schritt für Schritt auf dem eisigen Untergrund. Die Steigeisen
knirschen bei jedem Kontakt und das Seil, welches mich und meinen Partner
bei einem Sturz sichern sollte, hängt vor mir. Immer wieder stehe ich vor
einer tiefen Gletscherspalte, die mir den Weg versperrt, als ob mir der
Gletscher bemerkbar machen will, dass dieser Ort nicht für Menschen
geschaffen ist. Ich bin umgeben von schroffen Felswänden an denen
Gletschereis hängt wie Moos an Bäumen. Die weite Landschaft umgibt mich
und ausser uns zwei scheint es hier hin keinen anderen Menschen
verschlagen zu haben. Vor mir liegt ein weitläufiges Spaltenlabyrinth, auf
welchem ich weiter keuchend den steilen Hang hinauf steige bis zur
einsamen Berghütte, wo wir die kalte Nacht verbringen werden.
Hier oben zählt nur der jetzige Moment, alles andere lässt man unten im
Tal. Man spürt wie der Körper den Elementen trotzt - man spürt sich. Den
Apfel, den ich weit hochgetragen habe, ist auf einmal viel wertvoller.
Die Natur gewährt einem hier oben einen einmaligen Einblick von ihren
unberührtesten Seiten. Es ist ein Privileg, die Berge bewältigen zu
können, doch schlussendlich ist man hier trotzdem nur zu Gast in der
Natur.
Die Gletscher sind prägend für das Schweizer Landschaftsbild, doch mit
ihnen schmilzt nicht nur ein Teil der nationalen Identität, sondern auch
die riesigen Wasserreservoirs.
2100
werden die Gletscher
in den Alpen
verschwunden sein.
Felix Keller meint, dass wir in trockenen Sommermonaten mit massivem Wasserrückgang rechnen müssen, da um diese Zeit das
Wasser ausschliesslich von den Gletschern stammt.
Doch weit dramatischer sieht die Lage in Gebieten mit niedrigem Niederschlag aus. Laut der Studie des Glaziologen Hamish
D. Pritchard werden in wenigen Jahrzehnten bis zu 221 Millionen Menschen im Himalaya von einer Verknappung der
Trinkwasserversorgung direkt betroffen sein.
In der Schweiz rechnet man damit, dass die Gletscher im Jahr 2100 weitgehend verschwunden sein werden. Dies hängt
allerdings auch von dem Niederschlag ab. Felix beobachtet das sich schneereiche Winter im Hochgebirge wieder häufen, was
für die Gletscher vorteilhaft ist.
Dank dem hohen Niederschlag könnte die Schweiz von einer Wasserknappheit in der Zukunft verschont werden. Jedoch müssten
wir mit Einschränkungen im Wasserverbrauch rechnen. Von einem sparsameren Wassermanagment werden wir nicht davonkommen.
Die Stadt Lee im Nordindischen Ladakh spürt die Folgen der Gletscherschmelze bereits heute. Durch den Rückgang der
Gletscher fällt das Schmelzwasser im Sommer aus. Um der Problematik entgegen zu wirken, entwickelte Sonam Wangchuk im
Jahr 2014 sogennante ,,Ice Stupas’’. Das sind bis zu 20 Meter hohe Eistürme, die durch den Winter mit einer vertikal
aufgestellten Wasserleitung erstellt werden. Das Wasser, welches oben aus der Leitung sprüht, gefriert und bildet so die
Eismasse, welche schlussendlich den Eisturm bildet. Im Frühling schmilzt die Ice Stupa und das Schmelzwasser wird direkt
zu den Feldern geführt, um die notwendige Bewässerung zu gewährleisten.
Felix Keller traf den Erfinder Sonam vor zwei Jahren in der Schweiz, um auch im Schweizer Rosegtal Ice Stupas zu
erstellen. Nicht um eine Wasserknappheit zu bekämpfen, sondern um auf das Thema der Gletscher als Wasserspeicher zu
sensibilisieren. Er entdeckte, dass er mit den Stupas das deprimierend vorbelastete Thema der Gletscherschmelze auf eine
reizende und faszinierende Art kommunizieren kann. Felix ist der festen Überzeugung, dass negative Fakten lähmend wirken
können und wir im Klimaschutz nur vorankommen, wenn wir positiv denken.
Wenn wir den Klimaschutz als Motivation und nicht als Pflicht sehen, denkt Felix, hätten wir viel mehr Möglichkeiten, um
die Situation zu verbessern.
Anders als die Ice Stupas können Gletscher eine weitaus grössere Menge an Wasser speichern. Felix will das schnelle
Abschmelzen des Eises mit einer schützenden Schneeschicht verhindern. Der Kunstschnee wird durch ein extrem
energieeffizientes Verfahren produziert, welches den Wasserdruck nutzt, um ohne zusätzlichen Strom auszukommen. Um
diesen Wasserdruck zu erreichen, muss die Wasserquelle 200 Meter weiter oben angelegt sein. Beim Morteratschgletscher
ist dies der höher gelegene Schmelzwassersee. Somit wird das geschmolzene Wasser direkt wiederverwendet, um damit den
Gletscher zu beschneien. Dieses Prinzip hat den Begriff Schmelzwasser-Recycling bekommen.
Eine Technologie wie diese zu entwickeln ist teuer. Mit ganzen 100 Millionen Franken wird gerechnet, was im ersten
Moment nach viel klingt. Allerdings ist dies auf 30 Jahre Zeit verteilt, was noch 3 Millionen pro Jahr ausmacht. Wenn
man den Nutzen anschaut, welcher ein riesiges Wasservolumen bietet, kann man dies mit einem Stausee vergleichen, welcher
aber 400 Millionen Franken kosten würde.
Felix sieht das Problem nicht bei den Finanzen, sondern bei der Frage wer heute ein Projekt mit einer Dauer von 30
Jahren bewilligen würde. Heutzutage strebt man nach möglichst schnellen sichtbaren Ergebnissen.
Die grosse Begeisterung für sein Projekt verdankt Felix aber auch der aktuellen Klimabewegung. Verschiedene
Grossunternehmen aus dem Fashion Bereich wollen sein Vorhaben finanziell unterstützen.
Um das Projekt MortAlive bei den verschiedensten Gemeinden, Unterstützerinnen und Sponsorinnen durchzubringen braucht
Felix eine Menge Durchhaltewille und Motivation. Ich frage ihn allerdings ob sich dieser riesige Aufwand überhaupt
lohnt, welchen wir auch in die Senkung des CO2 Fussabdrucks investieren könnten.
Felix antwortet darauf selbstkritisch, dass es bei seinem Projekt um reine Symptombekämpfung handelt. Die Senkung der
CO2 Ausstösse stehe natürlich auf der höchsten Priorität. In seinem Projekt geht es nicht nur darum, den
Morteratschgletscher zu schützen, sondern ein Verfahren zu entwickeln, welches man in Gebieten anwenden kann, deren
Lebensgrundlage vom Schmelzwasser abhängt. In der Schweiz könne man ein solches Vorhaben in einem kontrollierten Rahmen
entwickeln und testen.
Früher oder später werden die Gletscher verschwunden sein. Wie schnell, hängt davon ab ob wir die CO2 Emissionen
schnellstmöglich eindämmen können.
Schlussendlich steht das Projekt von Felix Keller für die Hoffnung, den Klimawandel zu bewältigen.
Auch wenn das Vorhaben im ersten Moment verrückt klingt, sind solche Projekte unsere Hoffnungsträger für die Zukunft.
Während wir durchgehend daran erinnert werden, was für schlimme Folgen der Klimawandel hat, verlieren wir oft die
Hoffnung, die Welt noch verbessern zu können. Die negativen Fakten lähmen uns. Doch wir wissen noch nicht, ob es bereits
zu spät ist, die Welt zu retten. Trotzdem müssen wir an einer besseren Zukunft arbeiten. Was es jetzt braucht, sind
Lösungen und eine grundsätzliche Umstellung vom Überkonsum in einen bewussteren Lebensstil.
Wir steigen am frühen Morgen bei Dunkelheit aus der kargen Holzhütte. Ein dichter Nebel umgibt uns, welcher die Sicht
auf wenige Meter beschränkt. Das Licht der Stirnlampe verstickt in der trüben Atmosphäre. Meine Hände suchen nach dem
kalten Felsen, der mir im anspruchsvollen Gelände Halt gibt. Langsam steige ich auf dem harschen Eis hinauf zum Gipfel.
Plötzlich merke ich, wie sich die Nebelschicht senkt. Es wird heller.
Die Konturen der umliegenden Gipfel machen sich sichtbar und ich merke, wie die Aufregung in mir steigt. Das erste Licht
wärmt mein durchgefrorenes Gesicht, während ich auf 3600 Meter auf einem einsamen Gipfel in den Schweizer Alpen stehe.
Unter mir liegt ein unendliches Nebelmeer, welches sich langsam öffnet und die Sicht auf die riesigen Gletscher frei
gibt.
Bei der Rückkehr bleibt die Hochachtung - nicht die vor der eigenen Leistung, die Herausforderung gemeistert zu haben,
sondern die vor der überwältigenden Natur.
Diese Hochachtung fehlt der Menschheit. Erst wenn wir die Natur mehr schätzen und lieben lernen, sind wir auch bereit
sie zu schützen.